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ES GIBT JOURNALISTEN IN DER TÜRKEI

Eine Handvoll Journalisten gehen allem Druck und allen Drohungen zum Trotz mutig ihrer Profession nach und berichten weiterhin die Wahrheit. Auch wenn sie im Gefängnis landen oder ins Ausland müssen, erinnern sie mit ihren Schreibstiften an Demokratie, Gleichberechtigung und Recht. In diesem Dossier
lesen Sie, welchen Preis diese Journalisten gezahlt haben, die die Wahrheit schreiben und die Ehre ihrer Stifte nicht beschmutzen.

Es ist eine berühmte Geschichte: Friedrich der Große, König von Preußen, will in Potsdam auf einem Grundstück, das ihm gefällt, ein Schloss bauen. Ein Müller, dem ein Teil des Grundstücks gehört, weigert sich jedoch, sein Feld zu verkaufen. Als der König den Müller nicht dazu bringen kann, seine Haltung
zu ändern, versuchte er ihn zu überzeugen, indem er ihn in seinen Palast rief. Diesmal wurde er wütend und begann zu drohen: „Er weiß, dass ich Ihm die Mühle nehmen kann?“ Der selbstbewusste, mutige und weise Müller antwortete: „Ja, Majestät, wenn det Kammerjericht in Berlin nich wär‘!“ Das saß! Der Alte Fritz konnte nichts mehr sagen und ließ sein Schloss auf dem Nachbargrundstück errichten – die Mühle blieb unberührt. Heute erinnern diese beiden historischen Gebäude die ganze Welt daran, dass Recht und Gesetz für alle gelten.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Die Türkei erlebt seit 10 Jahren Zeiten der Einschränkung von Freiheiten, Zehntausende Oppositionellen werden ins Gefängnis gesteckt, Eigentum von Geschäftsleuten wird zerstört, Milliarden Dollar an Korruption fließen und aufgrund dessen bricht die Wirtschaft zusammen. In einer solchen Atmosphäre der Angst und trotz der Gefahr, inhaftiert zu werden und trotz Morddrohungen gibt es eine Handvoll mutiger Stifte, die rufen: „Es gibt Journalisten in der Türkei!“

Die Medieninstitutionen im Allgemeinen und die Journalisten im Besonderen haben am meisten unter dem negativen Trend gelitten, der in der Türkei vor allem während der letzten 10 Jahre herrscht. Nach 2016 wurden 34 TV-Sender, 53 Zeitungen, 37 Radiosender, 6 Nachrichtenagenturen, 20 Zeitschriften und 29 Verlage geschlossen. Mehr als 200 Journalisten flohen ins Ausland. 34 ausländische Journalisten wurden abgeschoben, 3804 Presseausweise eingezogen. Dabei wurden mehr als 400 Journalisten festgenommen und vor Gericht gestellt. Derzeit befinden sich mehr als 60 Journalisten in Gefängnissen. Dieser Prozess hat viel Leid mit sich gebracht und der Schmerz hält weiter an. Hier ein Beispiel von vielen: Mevlüt Öztaş. Der Journalist wurde aufgrund seiner Reportagen festgenommen. Während er im Gefängnis war, musste er zweimal operiert werden. Seine Nieren versagten und er bekam rebs. Die Gerichte lehnten alle Anträge auf Haftentlassung ab. Seine Behandlung wurde hinausgezögert. Als er nach 874 Tagen unter öffentlichem Druck gezwungenermaßen freigelassen wurde, war es zu spät. Er starb 57 Tage nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis.

Auf der anderen Seite sank die Auflage der Tageszeitungen, die vor dem Putschversuch vom 15. Juli bei etwa 4 Millionen lag, um 65 Prozent auf heute 1,5 Millionen. Die Regierung Erdoğan hat viele Zeitungsverlage geschlossen (obwohl dies gesetzlich verboten ist). Er sorgte dafür, dass die größten Zeitungen der Türkei von Geschäftsleuten gekauft wurden, die zu seinen Unterstützern zählen. Er kontrolliert 95 % der Medien. Das Vertrauen in die Medien ist verloren gegangen. Laut dem World Press Freedom Index der Vereinigung Reporter ohne Grenzen (RSF) lag die Türkei 2002 auf Platz 99 von 180 Ländern. Heute liegt sie auf Platz 154. Es ist offensichtlich: Je weiter sich das Land von der Demokratie entfernt, desto rückständiger wird es auf allen Gebieten.

Recep Tayyip Erdoğan gab, nachdem er mit absoluter Mehrheit an die Macht gekommen war und allein regierte, seine anfängliche Liebe zur Demokratie auf und bestätigte damit die Aussage „Macht vergiftet, absolute Macht vergiftet absolut“. Er hasst oppositionelle Journalisten, denn was er am meisten fürchtet, sind Worte! Eine Handvoll Journalisten schreiben weiterhin die Wahrheit und verrichten trotz allem Druck und aller Drohungen mutig weiter ihre Arbeit. Auch wenn sie im Gefängnis landen oder ins Ausland müssen, erinnern sie mit ihren Stiften an Demokratie, Gleichberechtigung und Recht. Manche schreiben über die Beziehungen der Regierung zur Mafia, andere über Korruption, wieder andere über Rechtsverletzungen. In diesem Dossier berichten Journalisten aus erster Hand, welchen Preis sie dafür gezahlt haben, die Ehre ihrer Stifte nicht beschmutzt zu haben, sondern die Wahrheit zu schreiben. Sie werden besser verstehen, was sie durchmachen und mit welchen Schwierigkeiten sie konfrontiert sind. Es ist, als ob sie diejenigen Lügen strafen wollen, die sagen: „In der Türkei gibt es keine Unterdrückung und Folter …“

ROJDA AYDIN / JİNNEWS

ICH WAR NACKTDURCHSUCHUNGEN AUSGESETZT

Ich habe 2016 angefangen, bei Jin Haber (JINHA) zu arbeiten. Als JINHA von der Regierung geschlossen wurde, wechselte ich zur Zeitung Şûjin. Aber
auch sie wurde geschlossen. Derzeit arbeite ich bei der Nachrichtenagentur JINNEWS. Die Türkei ist für wahre Journalisten ein riesiges Gefängnis. In der
Türkei Journalistin zu sein, insbesondere kurdische Journalistin, ist sehr, sehr schwer. Wenn Sie ein kurdischer Journalist oder eine kurdische Journalistin sind, gelten Sie als „potenzieller Terrorist“. Es ist nicht unwahrscheinlich, im Nachgang zu einer Reportage das Ziel einer Kugel zu werden. Ich wurde wegen meiner Reportagen vier bis fünfmal in Gewahrsam genommen. Im Jahr 2020 war ich gerade zu Recherchen unterwegs, als ich erneut festgenommen und zusammen mit zwei meiner Kolleginnen auf der Polizeiwache trotz all unseres Widerstandes einer Nacktdurchsuchung unterzogen wurde. Die Regierung sagt, dass es in der Türkei keine Nacktdurchsuchungen gäbe. Ich selbst habe es erlebt. Die von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Ermittlungen wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ und „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ wurden eingestellt. Diesmal wurde jedoch eine Klage mit der Behauptung eingereicht, ich hätte „unbewaffnet an illegalen Versammlungen und Märschen teilgenommen und sie trotz Warnung nicht verlassen“. Dieser Fall ist noch nicht abgeschlossen.

TUNCER ÇETİNKAYA / JOURNALIST

NACH DER OPERATION HAT MAN MICH DEM TOD ÜBERLASSEN

Nach dem Putschversuch vom 15. Juli hat die Polizei bei mir zu Hause eine Razzia durchgeführt, und ich wurde festgenommen, ohne dass die Staatsanwaltschaft mich angehört hätte. Ohne Gerichtsverfahren verbrachte ich zwei Jahre im Gefängnis. Erst nach neun Monaten konnte ich herausfinden, warum ich inhaftiert worden war. Mein Verbrechen? „Berichterstattung in den Medienorganen der Hizmet-Bewegung und Kritik an Gesetzwidrigkeiten.“ Die von mir bei meiner journalistischen Tätigkeit verwendeten Computer, Kameras und Presseausweise wurden als Beweismittel für Straftaten beschlagnahmt. Ich wurde freigelassen, weil sie keine Straftat finden konnten. Aber am nächsten Tag wurde ich unter politischem Druck wieder verhaftet. In der Haft wurde ich gefoltert: Mir wurde das Essen und Trinken verweigert, ich wurde beleidigt und erhielt Morddrohungen. Meine Medikamente wurden mir nicht gegeben, ich wurde nicht zum Arzt gebracht. Meine Nieren versagten schließlich. Ich musste im Gefängnis operiert werden. Nach der Operation wurde ich an einem Wintertag zehn Stunden nackt in einer Haftzelle mit offenen Fenstern dem Tod überlassen. Das, was ich erlebt habe, war nur eines von Hunderttausenden von Beispielen in der Türkei.

RUŞEN TAKVA / JOURNALIST

ES IST EIN VERBRECHEN, IN DER TÜRKEI RECHERCHE ZU BETREIBEN!

Nachdem der Fernsehsender İMÇ TV, für den ich gearbeitet hatte, 2016 geschlossen wurde, wurde ich aufgrund einer Reportage von der 2. Großen Strafkammer in Van zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt. 2018 wurde ich dann bei einer Nacht- und Nebeloperation in meiner Wohnung festgenommen.
Als vor Gericht beanstandet wurde, dass die Anschuldigung dieselbe sei wie im vorherigen Fall, wurde der Fall zurückgewiesen. Aber in der Nacht meiner
Festnahme wurden mein Handy und die Festplatte mit all meinen Archiven beschlagnahmt. Sie wurden mir immer noch nicht ausgehändigt. Seit 2018 wird fast jeden Monat aufgrund irgendeiner meiner Reportagen ein Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet. Sogar diejenigen, die mir Interviews gegeben haben, werden aufgefordert gegen mich auszusagen. Im Januar 2021 wurde wegen eines Fotos, das ich während einer Pressekonferenz aufgenommen hatte, Klage erhoben und eine Freiheitsstrafe von 18 Jahren beantragt. Die Begründung: Ich stehe mit einer Kamera in der Hand vor einer Menschenmenge, die eine Erklärung abgibt. Die Staatsanwaltschaft reichte mit dem Vorwurf, ich würde „die Menge anführen und leiten“ eine Klage wegen „Anführen einer [terroristischen] Vereinigung“ ein. Der Richter nahm diesen Fall an. Dabei war ich nur als Journalistin dort.

NUR ENER KILINÇ / JOURNALISTIN

ICH FREUE MICH ERST, WENN AUCH DIE INHAFTIERTEN JOURNALISTEN FREIKOMMEN

Mein Gefängnisleben, das am 1. März 2017 begann, endete am 21. Februar 2018. Das war nicht der einzige Preis, den ich für die Ermittlungen gegen Erdoğans Putschversuchs-Theater vom 15. Juli zu zahlen hatte. Die Richter der Erdoğan’schen Ordnung hatten beschlossen, dass ich 7 Jahre meines Lebens im Gefängnis verbringen sollte. Der Klage mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung folgte der Prozess wegen „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“. Gegenstand dieses Falls war mein Buch „Drei Gänseblümchen“, das aus Briefen von Gefängnisinsassen besteht. Die Wunden der Handschellen an meinen Handgelenken waren verheilt, aber der Schmerz des Leids und der Folter konnte nicht aus meinem Gedächtnis gelöscht werden. Als Ehepaar trafen wir, während wir uns in Hausarrest befanden, schließlich die mutige Entscheidung, das Land zu verlassen und zusammen zu leben. Während unserer Reise von der Türkei nach Griechenland musste ich immer an die Journalisten, unschuldigen Frauen und ihre Babys denken, die noch im Gefängnis waren. Als ich aus dem Gefängnis entlassen worden war, sagte ich mir: „Ich bin jetzt zwar raus, aber in dem Haftraum, in dem ich war, sind immer noch ein 30 Tage altes Baby und 6 Kinder. Ich werde mich erst freuen, wenn auch sie freikommen.“ Meine Worte sind in meinem Herzen noch so frisch wie damals; ich freue mich erst, wenn auch diese Babys, all die unschuldigen Frauen und Journalisten frei sind!

ÖMER ÇELİK REDAKTEUR / DER MEZOPOTAMYA AGENCY

ICH BERICHTETE ÜBER BERAT ALBAYRAK UND KAM FÜR 10 MONATE INS GEFÄNGNIS

Ich habe 2009 bei der Dicle Haber Ajansı (DIHA) mit dem Journalismus begonnen. 2011 wurde ich zusammen mit 32 Journalisten während einer Operation
gegen kurdische Presseinstitutionen festgenommen. Die Anschuldigung gegen mich: „Hinter Nachrichten her sein, die den Staat in Schwierigkeiten bringen und ihn in den Augen der Öffentlichkeit demütigen.“ 18 Monate war ich im Gefängnis. Ein anderer Fall, wegen dem ich vor Gericht stand, betraf die Veröffentlichung von E-Mails von Berat Albayrak, dem ehemaligen türkischen Finanzminister. Ich wurde am 25. Dezember 2016 bei einer Polizeirazzia bei mir zu Hause gefoltert. Nach 24 Tagen in Gewahrsam wurde ich in das Gefängnis überführt, das ich erst zehn Monate später wieder verlassen sollte. Sie haben den Bericht über die Folterungen, die ich erlitten habe, aus meiner Akte entfernt! Für meine Berichterstattung wurden 11 Jahre Gefängnis gefordert! Ein anderes Mal wurde wegen einer Nachrichtenmeldung über den stellvertretenden Generalkommandeur der Gendarmerie, Musa Çitil, der die Militäroperation durchgeführt hatte, die den Bezirk Sur der Stadt Diyarbakır von der Landkarte ausradierte, eine Klage gegen mich eingereicht. Das Gericht hat mich zwar vor Kurzem für nicht schuldig befunden, die Gegenseite kann jedoch noch Berufung einlegen, die Frist ist noch nicht abgelaufen.

BERİTAN CANÖZER / KORRESPONDENTIN BEI JİNNEWS

ICH KAM INS GEFÄNGNIS, WEIL ICH SO AUFGEREGT WAR

2015 wurde ich während einer Reportage festgenommen, weil ich so „aufgeregt“ gewesen sei. Nach vier Tagen in Gewahrsam wurde ich schließlich aufgrund meiner Berichterstattung und meiner Social-Media-Beiträge für vier Monate inhaftiert. Ich habe im Gefängnis viele Rechtsverletzungen
mitbekommen und auch selbst erlebt. Seit 2015 wurden 11 Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet. In einem Fall wurden 15 Jahre Gefängnis gefordert. In einigen der Fälle wurde ich freigesprochen, andere laufen noch. Ich bin nur unter Auflagen auf freiem Fuß und darf nicht ins Ausland reisen. Allein in den letzten sechs Monaten wurde ich zweimal festgenommen und war acht Tage in Gewahrsam. Vorgeworfen werden mir meine Reportagen und meine Beiträge in den sozialen Medien. Für die kurdische Presse zu arbeiten, eine Kurdin zu sein, eine Frau zu sein, bedeutet natürlich, dass die Unterdrückung doppelt so stark zu spüren ist. Trotz all des Drucks setzen wir immer noch alles daran, über die Lage zu berichten. Wir wissen, dass Journalismus kein Verbrechen ist. Dutzende unserer Kollegen sind inhaftiert. Es ist kein Verbrechen, zu berichten, der Öffentlichkeit genaue Informationen zu vermitteln, zu kritisieren.

NURULLAH KAYA / JOURNALIST

ICH ERLEBTE MENSCHENUNWÜRDIGE FOLTER

Das AKP-Regime zerstörte vor dem Genozid, den es in der Türkei begehen wollte, zunächst die Medien. Vor dem 15. Juli wurden alle Zeitungen und Fernsehsender der Opposition zwangsweise geschlossen. Ich arbeitete in der Zeitung Zaman, die auch geschlossen wurde. Ich habe über die illegalen
Waffenlieferungen der AKP-Regierung an der syrischen Grenze und ihre Unterstützung vieler illegaler Organisationen, insbesondere des IS und Al-Nusra,
berichtet. Ich wurde an der Grenze festgenommen und bedroht. Ich wurde immer wieder ins Visier genommen und verfolgt. Zwei meiner Kollegen, die
als Journalisten an der Grenze arbeiteten, wurden getötet. Eine Woche nach dem Putschversuch am 15. Juli führte die Polizei bei mir zu Hause mit langläufigen Waffen eine Razzia durch und bedrohte meine Familie. Ich habe auf der Polizeiwache Folter erlebt, die unmenschlich war. Ich wurde ohne jegliche Beweise festgenommen und kämpfte 19 Monate lang unter sehr schwierigen Bedingungen im Gefängnis ums Überleben. Ich wurde auf Bewährung
entlassen, obwohl ich keine Straftat begangen hatte. In der Türkei wird Journalisten kein Recht auf Leben zugestanden. Deshalb mussten viele meiner
Freunde die Türkei verlassen.

CEMİL UĞUR / JOURNALIST

ICH SASS WEGEN MEINER REPORTAGEN MONATELANG IM GEFÄNGNIS

Seit 2014 arbeite ich als Journalist. Im Jahr 2016 wurde ich bei einer Recherche festgenommen und inhaftiert. Ich war drei Monate im Gefängnis. Obwohl kein Straftatbestand vorlag, wurde ich wegen meiner Reportagen und meiner Beiträge in den sozialen Medien zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. 2020 erfuhr ich, dass zwei Dorfbewohner im Stadtteil Çatak in Van auf der Intensivstation eines Krankenhauses behandelt wurden. Als ich den Vorfall untersuchte, konnte ich anhand von Dokumenten nachweisen, dass diese beiden Dorfbewohner von Soldaten aus einem Hubschrauber geworfen worden waren. Wegen meiner Berichterstattung wurde ich zusammen mit drei meiner Kollegen in Gewahrsam genommen. Sechs Monate verbrachte ich im Gefängnis, weil das Gericht unsere gesellschaftlich relevanten Reportagen als Verbrechen betrachtete. In den Gefängnissen haben wir keine Rechte. Die Häftlinge befinden
sich in völliger Isolation. Und es wird Tag für Tag schwieriger, in der Türkei Journalismus zu betreiben. Aber ich schöpfe Kraft aus Metin Göktepe, Hrant
Dink, Uğur Mumcu und Apê Musa. Was es mich auch immer kosten mag, ich möchte diesen Beruf weiter ausüben.

MEHMET ÖZDEMİR / JOURNALIST

ICH WAR 22 MONATE IM GEFÄNGNIS, OHNE DASS ICH EINES VERBRECHENS ANGEKLAGT WURDE

Als ich erfuhr, dass nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 ein Haftbefehl gegen mich vorliegt, ging ich zur Polizei und stellte mich. Nach acht Tagen schwerem Gewahrsam wurde ich inhaftiert und in den geschlossenen Strafvollzug in Silivri überführt. Meine Anklageschrift kam genau neun Monate später. Wegen „versuchtem Staatsstreich“ und „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ wurden drei lebenslängliche Haftstrafen gefordert. In der 65-seitigen Anklageschrift konnte jedoch kein einziger Beweis für eine Straftat erbracht werden. Es gab nicht einen einzigen Hinweis auf meine Tätigkeit bei der Zeitung als „Redakteur von Seite 1“ und „Verantwortlicher Redaktionsleiter“. Ich fragte die Richter, was mein Verbrechen sei, bekam aber keine Antwort. Der Staatsanwalt reduzierte seine Forderung nach dreimal lebenslänglich auf einmal und forderte, mich nur wegen „Anführen einer terroristischen Vereinigung“ zu bestrafen. Nach 22 Monaten wurde ich freigesprochen und aus dem Gefängnis entlassen. Der Staatsanwalt legte jedoch Revision gegen die Entscheidung ein. Das Kassationsgericht hob den Freispruch auf und verlangte, dass ich erneut vor Gericht gestellt und bestraft werde.

MELİKE AYDIN / KORRESPONDENTIN BEI JİNNEWS İZMİR

GESELLSCHAFTEN ZU ISOLIEREN IST DAS ZIEL

Volksgruppen zu isolieren ist für die Mächtigen in der Türkei eine Art Regierungsmethode. Als kurdische Journalistin kann ich sagen, dass das der Hauptgrund für die Gewalt ist, die ich erlebt habe. Im April 2018 wurde ich festgenommen, als ich von einer Recherche in Aydın zurückkehrte. 2016 war ich aufgrund eines Beitrags in den sozialen Medien zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ich wurde unter der Bedingung freigelassen, in den kommenden fünf Jahren kein ähnliches „Verbrechen“ zu begehen, sonst müsste ich die doppelte Haftstrafe verbüßen. Am 11. November 2019 um 5 Uhr morgens stürmte die Polizei aufgrund einer meiner Reportagen meine Wohnung – ein Trauma für meine Familie. In Gewahrsam wurde mir angetragen,
Spionage zu betreiben, und mir wurde angedroht, ich würde meinen Job verlieren. Ich werde immer noch verfolgt und belästigt. Im Gefängnis wurde ich
gewaltsam einer Nacktdurchsuchung unterzogen. Drei Monate lang konnte ich nicht arbeiten, meine Bücher wurden beschlagnahmt und mir trotz meines Freispruchs nicht zurückgegeben. Ich wurde freigesprochen, aber ich wurde zu einer Journalistin, der gegen ihre Nachrichtenquellen „terrorisiert“ wurde, und einige, insbesondere national-konservative Türken, wandten sich von mir ab.

AZİZ ORUÇ / JOURNALIST

10 WEGEN MEINER REPORTAGEN DROHEN MIR 28 JAHRE GEFÄNGNIS

2013 habe ich bei der Dicle Haber Ajansı mit dem Journalismus begonnen. Als die Agentur von der Regierung geschlossen wurde, arbeitet ich bei
DIHABER weiter. Weil wegen meiner Reportagen eine Reihe von Klagen gegen mich eingereicht wurden, musste ich 2017 in den Irak fliehen. Im Irak
war ich Nachrichtenredakteur bei RojNews und schrieb Artikel für die Zeitung Yeni Yaşam. Nach drei Jahren, im Dezember 2019, ging ich über den Iran
nach Armenien, um nach Europa zu gelangen. Aber ich wurde festgenommen und über den Iran in die Türkei ausgeliefert. 11 Monate war ich im Gefängnis.
Mein Prozess geht weiter und mir drohen bis zu 28 Jahre Gefängnis. Wegen einer anderen Reportage wurde ich zu zwei Jahren und einem Monat Gefängnis verurteilt. Außerdem droht mir in einem anderen Prozess eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren wegen eines Artikels mit dem Titel „Vor 23 Jahren
Lice, Jetzt Cizre“. Meine Frau wurde wegen eines Tweets festgenommen, den sie gesendet hatte, während ich im Gefängnis war. Während meine Frau
in Gewahrsam war, waren unsere Kinder tagelang ohne Aufsicht. Wir betreiben in der Türkei in einem sehr schwierigen Umfeld unermüdlich Journalismus. Ich versuche, der Öffentlichkeit die Wahrheit zu vermitteln, und ich möchte, dass die ganze Welt erfährt, was hier passiert

ZAFER ÖZSOY / JOURNALIST

22 MONATE MEINES LEBENS WURDEN MIR GESTOHLEN

Ich bin auch einer der Journalisten, deren Weg nach Silivri führte. Zuerst wurde für die Nachrichtenagentur Cihan, bei der ich arbeitete, ein Treuhänder
eingesetzt, woraufhin ich entlassen wurde. Ich wurde dann Partner in einem Medienunternehmen. Allerdings wurde auch dort ein Treuhänder eingesetzt,
weil es mit Cihan in Verbindung stand. So war ich zum zweiten Mal in einem Jahr arbeitslos. Ich begann, für ausländische Medienorganisationen zu arbeiten
– bis 10 Tage nach dem Putsch, also bis zum 26. Juli. Um 06:00 Uhr morgens führte die Polizei mit automatischen Waffen eine Razzia bei mir zu Hause durch. Gewahrsam, Gericht … und schließlich das Gefängnis in Silivri. Genau 22 Monate in einer 30 Quadratmeter großen Zelle. Dann wurde, da es keine
anderen Beweise gab, außer dass ich als Journalist gearbeitet hatte, auf Freispruch entschieden – ohne ein Wort der Entschuldigung. Aber wer übernimmt die Verantwortung für die 22 Monate, die meinem Leben gestohlen wurden? Niemand. Man meinte wohl, dass die 22 Monate, die ich im Gefängnis saß,
nicht ausreichten, und so wurde neun Monate nach meiner Entlassung erneut ein Haftbefehl ausgestellt. „Entweder Gefängnis oder Mariza“, sagte die Justiz
meines Landes. Ich habe mich für Mariza entschieden. Eines Morgens verließ ich mein Land und überquerte den Fluss Mariza (Evros). Danach wurde dann
noch ein Haftbefehl mit dem „roten Bulletin“ ausgestellt …

HASAN BOZKURT / JOURNALIST

ICH BIN NUR JOURNALIST

Am 17. Mai 2017 wurde ich zu Hause von der Polizei festgenommen und sechs Tage später wegen journalistischer Telefonate und eines Bankkontos inhaftiert. Eines Nachts wurde ich, ohne meine Familie informieren zu können, in ein Gefängnis in Denizli gebracht, 471 km von Ankara entfernt. Monatelang
konnte ich mit meiner Familie nur per Telefon sprechen. Ich war mit 30 Leuten in einem 8-Personen-Haftraum untergebracht. Ich habe monatelang auf dem Boden geschlafen, weil es kein Bett gab. Toilettengänge und das Waschen wurden zur Qual. Nicht anders die Arztvisiten. Er untersuchte uns nur aus 10
Metern Entfernung!

HABİBE EREN / JİNNEWS

ES IST SEHR SCHWER, EINE FRAU, EINE KURDIN UND EINE JOURNALISTIN ZU SEIN

Als Kind wollte ich immer Journalistin werden. Das war mein Traumberuf. Ich habe 2015 während meines Studiums als Journalistin bei der DIHA angefangen und später bei der JINHA und der Şujin gearbeitet. Derzeit bin ich bei JINNEWS. Unsere Agentur ist ein Medienunternehmen, dessen Team ausschließlich aus Frauen besteht, und unter dem Motto „Frauen mit dem Stift auf der Spur der Wahrheit“ den Focus auf frauenorientierten Journalismus legt. Abseits der klassischen Mainstream-Medien, die das männlich dominierte System am Leben erhalten, sagen wir: „Wir sind auch noch da“, und versuchen das sowohl ideell als auch praktisch umzusetzen. An diesem Punkt sind wir jedoch auch vielen Schwierigkeiten ausgesetzt. 2017 wurde ich zusammen mit fünf meiner
Freunde angezeigt, woraufhin eine Razzia bei uns zu Hause durchgeführt und ich festgenommen wurde. Ich wurde in meinem Berufsleben dreimal inhaftiert und es läuft derzeit ein Verfahren gegen mich. Die Politik versucht, uns Journalisten an der Ausübung unseres Berufs zu hindern, nicht nur durch Festnahmen, Inhaftierungen und Repressionen, sondern auch durch Razzien und die Beschlagnahmung unserer Ausrüstung. Frau, Kurdin und Journalistin zugleich zu sein, bringt viele Schwierigkeiten mit sich.

ABDURRAHMAN GÖK / REDAKTEUR DER MEZOPOTAMYA AGENCY

JOURNALISTEN HABEN ANGST, ENTFÜHRT ZU WERDEN

Die Schwierigkeiten, mit denen Journalisten in der Türkei konfrontiert sind, wurden mit dem Präsidialsystem noch unerträglicher. Schon in der Vergangenheit kostete es einen hohen Preis, über die Gesetzlosigkeit und Korruption der Regierung zu schreiben, aber jetzt ist er noch höher. Journalisten haben Angst, entführt zu werden. Ins Gefängnis zu gehen, verhaftet zu werden gilt jetzt schon nur noch als leichte Suppression! In den letzten fünf bis sechs Jahren haben Hunderte von Journalistenfreunden das Land verlassen müssen, weil sie ihre Arbeit nicht mehr ausüben konnten oder aus Angst. Die Türkei steht nun ganz oben auf der Liste der Risikoländer für Journalisten. Ich bin seit 2004 Journalist und es wurden mehr als 20 Klagen gegen mich eingereicht. 2009 verbrachte ich neun Monate im Gefängnis. Ich wurde bei einer Recherche festgenommen. Egal wohin ich ging, ich wurde ständig von der Polizei verfolgt und vernommen, besonders wenn ich eine Kamera dabeihatte. Mir droht jetzt eine 20-jährige Haftstrafe, weil ich Kemal Kurkut fotografiert habe, einen Universitätsstudenten, der 2017 bei den Newroz-Feiern in Diyarbakır von der Polizei getötet wurde.

ZEMO AĞGÖZ / ANKARA-KORRESPONDENTIN DER MEZOPOTAMYA AGENCY

ICH WURDE WIEDERHOLT VON DER POLIZEI SEXUELL BELÄSTIGT

Nachdem ich 2018 bei der Mezopotamya Ajansı angefangen habe, wurde mir klar, dass Journalistin in Ankara zu sein, insbesondere für die kurdischen Presse zu arbeiten, nichts mit dem an staatlichen Universitäten gelehrten „Journalismus“ zu tun hat. Wenn wir berichten wollen, erkennt die Polizei den Ausweis der Agentur, deren Reporter wir sind, nicht an, sie drohen uns. Persönlich wurde ich immer wieder von der Polizei beleidigt und sexuell belästigt. Besonders in Fällen, in denen es zu Übergriffen der Polizei auf Menschen kommt, richtet sich die Gewalt der Polizei auch gegen uns, die wir darüber berichten. Wir haben unsere Computer, Fotound Videokameras immer bei uns. Denn wenn wir sie im Büro ließen, könnten sie die Räume durchsuchen und unsere Geräte beschlagnahmen. Aber trotz all dieser Schwierigkeiten wurde die freie Presse zur zuverlässigsten Informationsquelle für die Menschen. Aus diesem Grund wenden sich die Menschen an uns, wenn sie Rechtsverletzungen oder Folter erleben, egal wo, ob in verlassenen Wohnvierteln, auf dem Markt, im Dorf oder in der Fabrik. Ich versuche, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und liebe den Journalismus.

DİNDAR KARATAŞ / JOURNALIST

DAS HAUPTZIEL SIND FREIE JOURNALISTEN

Am 24. November 2020 wurde bei mir zu Hause in Van eine Razzia durchgeführt und ich wurde von einem Sonderkommando der Polizei in Gewahrsam genommen. Ich kam wegen der Telefonate, die ich mit meinen Informanten führte, und der Reportagen, die ich machte, unter dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ in Untersuchungshaft. Meine erste Anhörung fand drei Monate später statt, und ich wurde freigelassen. Aber der Prozess geht weiter. Meine Kollegen Adnan Bilen, Nazan Sala, Cemil Uğur und Şehirban Abi wurden auch festgenommen. Als Journalisten waren und sind wir in der Region die Stimme der beim Grenzhandel Getöteten und im Abschiebezentrum vergewaltigten weiblichen Flüchtlinge; wir erheben unsere Stimme bei Menschenrechtsverletzungen und bei Morden. Es war ein tragisch-komischer Moment, als Präsident Erdoğan Frankreich in Bezug auf die Pressefreiheit kritisierte, den Druck, der in der Türkei auf die Presse ausgeübt wird, jedoch ignorierte. Als Journalist, der vor Gericht steht, möchte ich sagen, dass die AKP-Regierung und Erdoğan der Opposition sogar die Luft zum Atmen nehmen wollen. Als freie Journalisten in der Türkei stehen wir ganz vorne in der Schusslinie.

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