Der in der 5. Ausgabe der Journalist Post erschienene Artikel der finnischen Journalistin und Gewerkschafterin @SallaNazarenko in Gänze:
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts erhielt ich weitere schlechte Nachrichten. Ein Kollege in Belarus war verhaftet worden. Er ist ein mutiger Kerl und wusste, dass dies jeden Tag passieren konnte: Dennoch machte mich die Nachricht von seiner Verhaftung sehr traurig. Und er ist nicht der Einzige: Während meiner Laufbahn habe ich erlebt, wie KollegInnen aus ihren Heimatländern flohen und sogar erschossen wurden. Das waren Menschen, mit denen ich vieles gemeinsam hatte: Beruf, Werte, Sinn für Humor, Neugierde auf das Leben, die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit. Der einzige Unterschied zwischen mir und ihnen war die Tatsache, dass dieser Beruf für sie sehr gefährlich ist. Für mich ist er das nicht.
Lassen Sie mich das klarstellen. Finnland ist als offene Demokratie bekannt, die in den Statistiken über die Meinungsfreiheit sehr weit oben rangiert. Und das gilt für die meisten Teile: Die meisten meiner KollegInnen werden nicht von den Behörden bedroht oder verklagt. Einige von ihnen allerdings schon. Gerade jetzt werden drei Journalisten von Helsingin Sanomat wegen der Preisgabe eines Staatsgeheimnisses angeklagt. Der Prozess ist im Gange und wird wahrscheinlich Jahre dauern. Das Endergebnis ist noch nicht abzusehen.
Trotz gelegentlicher Rückschläge ist die Pressefreiheit ein zentraler Wert in unserer Gesellschaft. Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan darauf bestand, dass die ,,staatlichen Fernsehsender“ in Finnland und Schweden kontrolliert werden müssten, weil sie Interviews mit ,,Terroristenführern“ zeigten, antwortete der Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen finnischen Senders Yle, Jouko Jokinen, ziemlich unverblümt. Er bezeichnete Erdoğans Äußerungen als ,,typische Wahnvorstellung eines Autokraten, der glaubt, dass die Welt besser wird, wenn er versucht, die Medien und die Meinungsfreiheit zu kontrollieren“, und fuhr fort: ,,Die Tatsache, dass Diktatoren wütend auf uns sind, zeigt uns, dass wir gute Arbeit leisten.“
Es ist ja nicht so, dass es in Finnland keine Spannungen zwischen PolitikerInnn und Medien gäbe. Viele unserer PolitikerInnen mögen die Medien nicht. Die Partys von Ministerpräsidentin Sanna Marin sorgten weltweit für Schlagzeilen, und viele JournalistInnen hielten die Aufmerksamkeit für übertrieben. Darf eine junge Frau nicht feiern? Ja, sie darf, aber gleichzeitig: Wenn die Frau Premierministerin ist, wird die Presse über ihre Partys berichten. Über die Bedeutung des Themas für uns alle kann man diskutieren, aber die Tatsache, dass über ihr Feiern berichtet wird, kann nicht in Frage gestellt werden. So funktioniert eine Demokratie: Staatsoberhäupter werden zur Rechenschaft gezogen – selbst für Dinge, die ärgerlich oder banal erscheinen können. Der Rat für Massenmedien in Finnland befasst sich mit mehreren Beschwerden über die durchgesickerten Partyvideos. Die Entscheidung darüber, ob es Verstöße gegen die gute berufliche Praxis gab, wird in einigen Wochen fallen.
In vielen Ländern der Welt haben die Präsidenten und Staatsoberhäupter kein Verständnis für eine freie Presse. Obwohl viele, wenn nicht sogar die meisten Verfassungen die Meinungsfreiheit garantieren und nur wenige Staatsoberhäupter öffentlich erklärt haben, dass sie dagegen sind, erfordert die Pressefreiheit in der Praxis viel Arbeit – auch von unseren Staatsoberhäuptern. Pressefreiheit bedeutet, Entscheidungen zu treffen, die sie fördern. Pressefreiheit bedeutet Zugang zu öffentlichen Dokumenten und fundierte Begründungen für etwaige Einschränkungen der Pressefreiheit. Pressefreiheit bedeutet Proaktivität: Beantwortung der Fragen und Anfragen von JournalistInnen. Sie erfordert auch eine Medienpolitik: eine Infrastruktur, die den Menschen den Zugang zu verschiedenen Medien ermöglicht. Das bedeutet einen funktionierenden Postdienst, Internetverbindungen und mehr.
Außerdem ist es eine Zweibahnstraße. Professionelle JournalistInnen unterliegen der Selbstregulierung und nehmen die ethischen Überlegungen sehr ernst. In vielen finnischen Medien dürfen JournalistInnen zum Beispiel keine Geschenke von Interviewpartnern annehmen – selbst gut gemeinte Gastgeschenke können als Risiko für die Integrität angesehen werden. JournalistInnen müssen Fakten überprüfen, mehrere Quellen heranziehen und ihren Gesprächspartnern fair mitteilen, wo und wann ihr Interview veröffentlicht wird.
Das Vertrauen in die Medien ist in vielen Gesellschaften rückläufig. Dies gilt auch für Finnland, obwohl laut dem jüngsten Digital Media Report des Reuters Institute for the Study of Journalism die finnischen Nachrichten nach wie vor das größte Vertrauen unter den untersuchten Ländern genießen.
Dieses Vertrauen kann man sich nur durch harte Arbeit jeden Tag verdienen. Für JournalistInnen bedeutet dies, offen über journalistische Prozesse, Quellen und Blickwinkel zu sprechen. Für die Behörden bedeutet es die Bereitschaft, sich der öffentlichen Kontrolle zu stellen.
* Salla Nazarenko arbeitet als Spezialistin für internationale Beziehungen bei der finnischen Journalistengewerkschaft. Sie arbeitete als Auslandskorrespondentin für die finnischen Medien und war in internationalen Organisationen tätig, die sich für die Meinungsfreiheit in Zentralasien und im Kaukasus einsetzen. Im August 2021 schloss sie ihre Doktorarbeit über Patriotismus im russischen und georgischen Fernsehen an der Universität Tampere in Finnland ab und ist Rotary Peace Fellow am Reuters Institute der Oxford University und der Chulalongkorn University in Bangkok.