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“Wenn nicht wir, wer wird es sagen?”

In seiner Rede zum Geschwister-Scholl-Preis spricht sich der Schriftsteller Ahmet Altan gegen Hass und Nationalismus aus – verfasst in türkischer Haft.

Wer wird es sagen, Wenn wir es nicht, wer wird es sagen?

Der türkische Schriftsteller Ahmet Altan hat für sein Buch „Ich werde die Welt nicht wiedersehen“ am Montagabend den Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München bekommen – eine Ehrung in Abwesenheit, denn Altan sitzt im Gefängnis. Wir dokumentieren die Rede, die er wie sein Buch in der Haft geschrieben und nach München geschickt hat.

Im Leben eines Menschen muss es etwas geben, das wertvoller ist als das Leben selbst. Etwas, das wertvoll genug ist, um sein Leben dafür einzusetzen. Seit Ewigkeiten zieht die Menschheit mit einer Unwandelbarkeit dahin, deren Finsternis einer Winternacht gleicht. Eine Ausnahme bilden Menschen, in deren Leben es ein Ziel gibt, für das sie eben dieses Leben einzusetzen bereit sind. Wenn sie in dieser Dunkelheit ein Licht anzünden, werden sie selbst sichtbar und werfen dieses Licht auch auf die Unsichtbaren.

Der Beginn des Lebens, die Geburt, bei der aus einem Lebewesen ein anderes Lebewesen hervorgeht, ist ein Wunder. Der Tod mit seiner Unberührbarkeit, seiner Unausweichlichkeit und seinem großen, nie zu erforschenden Geheimnis, ist voller Pracht. Das Leben hingegen besteht, im Widerspruch zum Wunder seines Beginns und der Würde seines Endes, aus eintönigen Wiederholungen. Solange der Mensch seinem Leben nicht etwas hinzufügt, das dieses an Wert übersteigt, wird sein Erdenweg nie mehr sein als ein Teil dieser ewigen gewöhnlichen Wiederholungen.

Mit einem allen Lebewesen eigenen Instinkt glauben auch die Menschen, dass es nichts Wichtigeres gibt, als zu leben. Leben – als was auch immer, wie auch immer. Die große Mehrheit der Menschen lebt mit diesem Instinkt, sieht in der Bewahrung ihrer Existenz und ihrer Interessen die höchste Logik und verschwindet, mit dem Tod zusammen, mit Millionen anderer Lebewesen im Nichts.

 Hilflos in einer undurchsichtigen Menschenmenge und gefangen in ewiger Finsternis seinem Untergang entgegen zu taumeln, ist furchteinflößend. Und Furcht gebiert Gewalt. Menschen, die aus ihrem Leben kein Licht hervorbringen können, werden zu Feinden dieses ihnen so fremden Lichts. In dieser Feindschaft sehen sie eine Art Rettung, sie klammern sich im Dunkeln aneinander und erklären ihren Hass auf all jene, die ihnen nicht ähneln, zur Grundlage ihres Daseins.

„Sie begreifen nicht, dass sie sich selbst töten, wenn sie das Leben eines anderen Teils der Menschheit auslöschen.“

Ich glaube, dass diese Furcht und diese Feindschaft Auslöser des Rassismus und Militarismus sind, die heute die gesamte Welt erfasst haben. In Hass und Totschlag sehen diese Menschen einen Ausweg aus ihrer eigenen Auslöschung.

Die von Militarismus und Rassismus infizierten Menschen setzen alles daran, sich – nach dem Muster sich selbst auffressender Tiere – auf Kosten der Menschheit zu nähren, der sie doch auch angehören. Sie begreifen nicht, dass sie sich selbst töten, wenn sie das Leben eines anderen Teils der Menschheit auslöschen.

Dass Menschen auf ihrem in einem Winkel des unendlichen Weltalls isolierten Planeten die kurze Spanne ihrer Lebenszeit dafür einsetzen, ihr eigenes Selbst zu erhöhen und andere Menschen ihre Überlegenheit spüren zu lassen, bringt letztendlich allen nichts als Unheil. Der auf dem finsteren Weg ins Nichts empfundene Hass dient lediglich dazu, die Sinnlosigkeit dieser Finsternis noch zu verstärken.

Ich muss zugeben, dass ich hin und wieder dem Wunsch nachzugeben bereit bin, wie ein trotziges Kind zu schreien: „Wir werden alle sterben!“ Würden vom heutigen Tage an alle Geburten gestoppt, wäre dieser sonderbare Planet nach höchstens 90 Jahren menschenleer. Ist es da nicht unsinnig, dass eine derart hilflose Spezies unter den Lebewesen sich einer gegenüber dem anderen als überlegen behauptet?

Bei der Erschaffung des Menschen war wohl ein wenig Eile am Werk; es kam ein Lebewesen hervor, in dem etliche miteinander unvereinbare Gefühle eng beieinander liegen. Wie Mitleid und Hass, Güte und Bösartigkeit gedeihen Klugheit und Dummheit nebeneinander in gleicher Erscheinungsform.

Wenn Nationalismus, Hass, Schlechtigkeit und Dummheit in angereichertem Maße zusammenfinden, entsteht eine toxische Mischung. Gegen diese tödliche Krankheit wirken als Gegengift Mitleid, Güte und Klugheit, doch muss auch der hässlichen Fratze des Nationalismus die Maske der Heiligkeit abgerissen werden, hinter der dieser sich versteckt.

„Kein menschliches Leben endet glücklich, denn am Ende steht immer der Tod.“

In unseren Tagen, in denen die Fahnen, Märsche, Waffen und Gewalttaten des Rassismus und Militarismus erneut die Menschheit beschmutzen, kann man es nicht laut genug ausrufen, dass das gemeinsame Wohl der Menschheit nicht in ihrer Spaltung, sondern in ihrer Einheit liegt.

Kein menschliches Leben endet glücklich, denn am Ende steht immer der Tod. Was soll es dem Menschen da bringen, sein so oder so unglücklich endendes, meistens auch unbedeutendes Leben mit Hass zu vergiften?

Wenn wir nicht jetzt zur Sprache bringen, dass dieses niemandem nützt, wann denn sonst? Und wer wird dies aussprechen, wenn wir es nicht tun? Wollen wir denn nicht wahrhaben, dass es für alle von uns eine „erfüllende Verpflichtung“ gibt, nämlich aufzustehen und für das Wohl der Menschheit zu kämpfen, die Wahrheit zu verkünden und so unser Leben mit etwas zu bereichern, das dieses an Wert übersteigt.

Vergessen wir auch nicht, dass im Augenblick des Todes jeder in jenem „Leben“ genannten kurzen Zeitabschnitt verspürte Wunsch, jeder Ärger, jedes Streben, jeder Profitwettkampf seine Bedeutung verliert, ja sogar lächerlich wird.

„Diese Rede schreibe ich im Gefängnis. Deswegen kann ich heute nicht unter Ihnen sein.“

Lebensläufe, denen der Tod nicht den Sinn rauben kann, sind eher selten. Denn nur jene Menschen, die ihrem Leben etwas hinzufügen, das dieses an Wert übertrifft, können der Macht des Todes die Stirn bieten und vom Tod selbst nicht der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Sie haben sich heute hier zusammengefunden, um der Verleihung eines Preises beizuwohnen, der den Namen zweier junger Menschen trägt, die der Tod nicht bagatellisieren konnte, weil es in ihrem kurzen Leben einen Wert gab, der für sie den Wert ihres Lebens übertraf.

Das Leben anderer Menschen zu retten, gegen die von diesen Menschen erlittene Unterdrückung zu protestieren und erschreckender Ungerechtigkeit Einhalt zu gebieten, waren Werte, die die Geschwister Scholl höher einschätzten als ihr eigenes Leben. Mit ihren Schriften widerstanden sie Waffen und Gewalt. Bis heute bilden sie ein Vorbild. Ihre Flugblätter lehrten einen blutigen Despoten das Fürchten, der über Geschütze, Panzer und Bomben verfügte.

Diese beiden jungen Menschen zeigten uns nicht nur, wie ein Leben sich dem Tod gegenüber kraftvoll beweisen kann, sie machten uns auch klar, welche bedeutungsvolle Widerstands- und Lebensform das geschriebene Wort darstellt.

Dass Sie mein Buch für Wert hielten, mit dem nach diesen beiden jungen Menschen benannten Preis ausgezeichnet zu werden, erfuhr ich in einer Gefängniszelle. Auch diese Rede schreibe ich im Gefängnis. Deswegen kann ich heute nicht unter Ihnen sein.

Dieser Preis hat einen Teil der diesen beiden überragenden Menschen innewohnenden Kraft auch auf mein Leben übertragen und damit meine Widerstandskraft innerhalb dieser Mauern gestärkt. Ich bin überzeugt, dass die Erinnerung an die Geschwister Scholl auch Ihren Widerstand gegen nationalistische Strömungen bestärken wird.

Dafür, dass Sie mich zu einem Teil zweier Leben machten, die mit dem Tod nicht der Vergessenheit anheimfielen, möchte ich Ihnen allen von Herzen danken. Noch einmal haben Sie mir bestätigt, dass die Literatur mächtiger ist als die Tyrannei.

Quelle: https://www.sueddeutsche.de/

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