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EIN BABY KANN KEIN FEIND SEIN

DER JOURNALIST AHMET NESIN MACHT NEBEN DEN JOURNALISTEN AUCH AUF HUNDERTE BABYS IN DEN TÜRKISCHEN GEFÄNGNISSEN AUFMERKSAM UND ERGÄNZT: EIN BABY KANN KEIN FEIND SEIN

Weil ich geschrieben habe, „was kann eine 25-jährige schon falsch gemacht haben, damit sie mit ihrem Baby ins Gefängnis muss,“ wurde ich angegriffen. Mich interessiert gegen wen sich Ungerechtigkeit richtet. Es darf keine Diskriminierung im Kampf um Demokratie geben.

Der Journalist Ahmet Nesin ist der Sohn des prominenten Schrifstellers Aziz Nesin, der im TV und auf YouTube seinen Fokus auf das Thema AKP-Regierung und türkische Medien gerichtet hat. In seinen Sendungen durchleuchtet er den Putschversuch von 2016 gemeinsam mit Augenzeugen bis ins Detail. Mit nur 13 Jahren musste Nesin wegen seiner oppositionellen Haltung sein Land verlassen. Zuletzt wechselte der Journalist 2003 nach Frankreich über, nach dem die AKP die Regierung übernahm. Die Begründung für diese Entscheidung ist interessant: „Die Türkei ist einer Katastrophe ausgesetzt und niemand ist sich dessen bewusst. Wenn sich die Menschen dessen bewusst werden, wird es zu spät sein.“ Wir haben uns mit Ahmet Nesin über die Türkei und türkische Medien unterhalten.

Wann und warum haben Sie die Türkei verlassen?

Das erste Mal habe ich die Türkei im September 1971 verlassen. Nach dem Putsch vom 12. März 1971 gab es in den Schulen und in meinem Umkreis viel Unterdrückung. Ein Lehrer hatte im Klassenraum behauptet, mein Vater hätte in das Land und ich in das Klassenzimmer „geschissen.“ Wegen der großen Diskussion und des Kampfes anschließend musste ich mit meinen Dreinzehneinhalb Jahren nach England.

Ging es Ihnen in England gut? Haben Sie sich dort ruhig verhalten?

1977 wurde ich wegen meiner Rede als Schülervertreter einer Schule auf dem Kongress der britischen Schüler-Organisation aus England ausgewiesen. Danach blieb ich bis 2003 in der Türkei.

Nach dem die AKP die Regierung gestellt hat, haben sie das Land verlassen und haben in Frankreich Asyl beantragt. Warum?

Weil die AKP und Erdoğan die Regierung übernommen haben, habe ich Asyl in Frankreich beantragt. In der Begründung gab ich an, dass die Türkei einer Katastrophe ausgesetzt ist und sich niemand dessen bewusst ist. Wenn die Menschen das merken werden, wird es zu spät sein. Ich habe eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Frankreich. Ich habe deswegen die Türkei nicht erst nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 verlassen.
Ich habe hier eine Aufenthaltserlaubnis und lebe hier.

Ihre Prognose hat sich bewahrheitet. Was für ein Gefühl ist das?

Ich mache mir nicht sehr viele Gedanken über meine Prognosen. Vielmehr versuche ich zu verstehen, warum so viele Demokraten, Revolutionäre und Sozialisten das jahrelang nicht gesehen haben. Das passiert auch nicht zum ersten Mal. Wir sind in so etwas erfahren. Zunächst wurde der stellvertretenden
Ministerpräsident des Putschversuchs vom 12. September 1980, Turgut Özal, dem Land als Demokrat vorgeführt. Dafür brauchDER JOURNALIST AHMET
te es nicht den Religiösen oder den Konservativen im Zentrum. Das haben die Linken uns Liberalen gut geschafft. Danach hatten wir die Ära der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller. Weil sie eine Frau ist, sind sowohl Feministen und auch Demokraten zunächst in die selbe Falle getappt. Dabei geht es
hier um Politik. Das Geschlecht sollte dabei egal sein.

Dabei ist es nicht geblieben. Weil die nationalistischen Grauen Wölfe (Ülkücüler) eine Zeit lang aufgehört haben Morde zu begehen, wurde über Devlet Bahçeli im Vergleich zu Türkeş als Demokrat und Chance berichtet. Am Ende gab es den Fall Muhsin Yazıcıoğlu. Angeblich bereue er es und wollte in manchen Dingen ein Geständnis ablegen. Das hätte auch Hitler tun können. Ich akzeptiere keine Vergebung bei so vielen Morden. Weil heute Erdoğan sein wahres Gesicht zeigt, sei die Kritik an Demirel ungerecht. Dabei zeichneten seine Koalitionsregierungen eine der blutigsten Zeiten des Landes. Bei der türkischen Linken gibt es ein merkwürdig falsches Verständnis. Sie wollen das System ändern ohne den Staat zu verletzen. Das ist
unwahrscheinlich.


Ich möchte mit Ihnen über die jetzige Regierung sprechen. Nach dem Korruptionsskandal vom 17. Dezember 2013 wurden 53 Zeitungen, 34 TV-Kanäle, 37-Radiosender, 20 Magazine und 29 Verlage geschlossen. Das geschah trotz Artikel 30 der türkischen Verfassung („Pressebetriebe…. dürfen nicht beschlagnahmt werden“). Der Zugang zu tausenden Internetseiten ist gesperrt. Was denken Sie, was die Regierung so rücksichtslos und ängstlich macht?

Jeder Person oder Organisation kann Fehler machen. Das ist überall in der Welt so und es gibt richtige Mechanismen der Eigenkritik. Auch zwischen Staaten ist das so. Aber Länder wie die Türkei und die, die darin leben, haben immer Recht. Eigenkritik existiert für sie nicht. Eigenkritik ist ein wenig gleichzusetzen
mit Bildung und Lesen und deswegen bleiben solche Länder und ihre Menschen dem fern.

Als die AKP 2002 an die Macht kam, lag die Türkei im Pressefreiheitsindex auf Platz 99. Heute ist sie auf Platz 154 unter 180 Ländern. Wenn man auch noch Journalisten dazu zählt, die von der Regierung nicht als solche anerkannt werden, ist die Türkei auf dem letzten Platz. Wie bewerten Sie das?

Das man von Platz 99 auf 154 fällt bedeutet nicht, dass die Türkei eine Diktatur ist und einen Diktator an der Spitze hat. Als die Türkei auf Platz 99 war, hätte einschließlich die Linke den Faschismus in der Türkei sehen und sich dagegen stellen müssen. Es wird so eine Ära kommen, dass Erdoğan und seine Anhänger sagen werden, in der Türkei gäbe es eine Diktatur. Denn auch sie werden vor Gericht gestellt werden. Faschismus ist nicht, dass die Menschen vor Gericht gestellt werden, sondern die Folge dessen. Deswegen ist es wichtiger zu wissen, nicht wem gegenüber dieser sich richtet, sondern die Frage nach dem warum. Wir denken niemals darüber nach.

Warum hat die Regierung diesen Weg eingeschlagen, den Sie als „Faschismus“ bezeichnen?

Wenn die Regierung sieht und fühlt, dass sie davor steht selbst vor Gericht gestellt zu werden, so wird ihre Angst davor größer. Um das zu verhindern wird sie faschistischer und Maßnahmen wie in Diktaturen werden dadurch vermehrt. Bei Erdoğan sieht man das ganz offensichtlich. Bei Journalisten sieht man das an Nedim Şener. Nedim diskutiert nicht, aus Angst schreit und beleidigt er nur. Und wenn sie schreien, steigt bei uns der Angstpegel. Ich habe richtig Angst eines Tages Nedim zu begegnen. Er ist fähig alles für sein Vaterland zu tun und sich dennoch unschuldig zu fühlen. Leute wie Nedim haben eine
große Neigung zum Mord. Je mehr die Regierung Angst hat selbst vor Gericht gestellt zu werden, um so faschistischer wird sie um das zu verhindern, sagt

Glauben Sie, dass jeder zu einem Nedim Şener wird, wenn es so weiter geht?

Das glaube ich nicht. Nicht jeder wird einen Tiefpunkt wie Nedim erreichen. Aber ich glaube in unserem Widerstand gibt es eine Romantik. Es ist sehr schwer zu erklären, aber ohne wehzutun kann man keine Revolution durchführen. Wenn das Volk nicht bereits ist zu tun was zu tun gewünscht wird oder es nicht unterstützt, kann man das nicht Revolution nennen. Deswegen wird auch Mustafa Kemal falsch verstanden. Das Hutgesetz („Hut-Revolution/Şapka devrimi), die Umstellung auf das lateinische Alphabet (Alphabetsrevolution/ harf devrimi) und das Wahlrecht für Frauen ist nicht durch Folge einer Rebellion durch eine breite Bevölkerungsschicht entstanden. Warum nennt man diese dann Revolution? Wenn man diese Dinge als Revolution bezeichnet, kommt ein bescheidener Kampf gegen den Staat raus. Mustafa Kemal war sehr mächtig aber er konnte keine Landreform durchführen, die die eigentliche Revolution wäre. Auch İsmet İnönü hat das nicht geschafft. Wer hat es verhindert? Es war der Großgrundbesitzer Adnan Menderes. Revolution bedeutet das Verletzen mancher, insbesondere Oligarchen.

Der 2. November ist der „Internationale Tag gegen Strafl osigkeit für Verbrechen an Journalisten.“ Und es gibt Journalisten, die in den türkischen Gefängnissen an Krebs erkranken und daran sterben, z.B. der Korrespondent der Nachrichtenagentur Cihan für Uşak, Mevlüt Öztaş. Der Journalist kam als gesunder Mann ins Gefängnis und wurde als Krebskranker nach 874 Tagen aus der Haft entlassen. 57 Tage später starb er. Auf der anderen Seite gibt es den 70-jährigen Ahmet Altan, der im Gefängnis ist, weil er Journalist ist. Und noch viele andere….Wie sehen Sie das?

Es ist fast schon wie ich schon von Anfang an gesagt habe fast krankhaft die Dinge nur aus der Sicht eines Journalisten zu sehen. Es gibt in den Gefängnissen hunderte Insassen, die dem Tode nahe sind. Für mich ist deren Beruf nicht wichtig. Es gibt genauso viele Babys und Kinder hinter Gittern. Mich interessiert auch überhaupt nicht, welcher Anschauung ihre Familien angehören. Ein Baby kann nicht mein Feind sein. Ich hatte das Foto eines anderthalb Monate alten Babys veröffentlicht. Ich hatte geschrieben „Was kann schon die vielleicht 25 Jahre alte Mutter schon verbrochen haben um gemeinsam mit ihrem Baby ins Gefängnis geworfen zu werden.“ Daraufhin wurde ich von Leuten angegriffen, die sich für Demokraten halten. Es ist mir egal, wem Unrecht angetan wird. Beim Kampf um Demokratie darf es keine Diskriminierung geben. Aber bei uns gibt es
das.

Wer soll wegen der umfangreichen Korruption und Unrechtmäßigkeiten die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, darüber berichten? Wie soll die Gesellschaft darüber informiert werden? Was möchte die Gesellschaft?

Wenn man sieht, für wen die Gesellschaft ihre Stimme abgegeben haben, versteht man es. Der Staat hat aus jemandem
einen Arzt gemacht, der „bevor du deine Ehefrau betrügst, nimmt die eine Zweite“ gesagt hat.

Deswegen können wir die Journalisten und Wissenschaftler verruteilen, die Erdoğan als Demokrat bezeichnen.

Erdoğan sagte, dass die Zugstrecke zwischen Mersin und Anamur zu einer Schnellzugstrecke umgewandelt wird und hatte deswegen
in Mersin Applaus bekommen. Können Sie sich das vorstellen, zwischen Mersin und Anamur hatte es nie eine Zugstrecke gegeben. Es gab also keine Strecke, die umgewandelt werden konnte. Aus diesen Menschen werden dann Ärzte, Journalisten und Wissenschaftler. Erdoğan hat als Führer einen Rekord bei Verfahren gegen seine Kritiker: Demnach haben Kenan Evren 340, Turgut Özal 207, Süleyman Demirel 158, Ismet Sezer 163, Abdullah Gül 848 und Erdoğan 36.066 Verfahren gegen Kritiker eröffnet. Dabei gab es 12.298 Urteile und 3.831 Kritiker haben Strafen erhalten. Was denken Sie bei diesen Zahlen?


Ich will es wie die Jugend sagen: Es ist mir Schnuppe.

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